Im Polizeiberuf unverzichtbar: der richtige Riecher

Der Umgang mit Menschen steht im Zentrum der täglichen Arbeit von Polizistinnen und Polizisten. So unterschiedlich die Menschen sind, so verschieden sind auch ihre Bedürfnisse und Reaktionen. Läuft die nächste Begegnung freundlich und friedlich ab oder endet sie mit einem tätlichen Angriff des Gegenübers, bei dem schlimmstenfalls Leben in Gefahr sind? Nicht immer kann die Reaktion vorhergesagt werden und eine Verhaltensänderung kann innerhalb von Sekundenbruchteilen erfolgen. Wie stellt man sich im Alltag auf diese Unsicherheit ein?

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Ich habe viele Jahre als Polizist gearbeitet und dabei einiges erlebt. Heute bin ich Chef der Aus- und Weiterbildung der Kantonspolizei Bern. Dabei bin ich auch dafür verantwortlich, wie der Umgang mit Menschen gelehrt wird. Hier schildere ich ein Beispiel aus meiner früheren Arbeit als Polizist und die Herausforderungen, die damit verbunden sind. Als Polizei sind wir die Anlaufstelle für alle Menschen.

Von Mistgabeln bis Stilettos

Gstaad, 27.Dezember 2002, 14:30 Uhr. Ich habe Schalterdienst, die Türglocke klingelt. Ein älterer Herr schlurft zum Schalter. Er trägt einen ausgewaschenen Faserpelz. Offensichtlich kommt er direkt aus dem Stall. Seine schweren Stiefel hinterlassen auf dem frisch gewischten Boden eine entsprechende Spur. Aus seinem Stall wurde eine Mistgabel entwendet. Er vermutet, dass sein Bruder dahinter steckt, da er seit langer Zeit mit ihm ein «Gschtürm» hat. In meinem Büro rate ich ihm, den Diebstahl mit seinem Bruder ohne die Polizei zu regeln. Trotz klirrender Kälte öffne ich anschliessend das Fenster, um den Stallgeruch aus meinem Büro zu bekommen.

Beim Verlassen des Raums kreuzt der Bauer eine sonnenbebrillte Frau Mitte 40. Naserümpfend zieht sie die Tür hinter sich zu. Mit den hochhackigen Schuhen rutscht sie beinahe auf dem noch nassen Boden aus. Mein Büro füllt sich augenblicklich mit dem süssen Duft eines teuren Parfüms und ich frage mich unwillkürlich, welcher Geruch mir lieber ist. Die Dame hat an ihrem Bentley einen Parkschaden festgestellt. Nachdem ich ihr die nötigen Formulare ausgehändigt habe, verlässt auch sie die Wache. An ihrem Pelzmantel haben sich liegengebliebene Strohhalme aus dem Stall des Bauern verfangen. Das Fenster bleibt noch eine Weile offen.

Anforderungen an die Polizistinnen und Polizisten

Heute arbeite ich bei der Aus- und Weiterbildung der Kantonspolizei Bern und beschäftige mich mit den Themen, die an unsere Polizistinnen und Polizisten weitergegeben werden sollen. Oft denke ich an die beschriebene Situation und stelle fest, welche hohen Anforderungen doch an die Mitarbeitenden im Umgang mit Menschen gestellt werden. In meiner Karriere als Polizist hatte ich mit vielen Menschen zu tun: Verlorengegangenen Kindern, verwahrlosten Landstreichern, Mördern, Drogenkranken, geistig Behinderten, Superreichen oder schwer Verletzten. Jeder musste auf seine Weise behandelt werden. Dies fordert uns jeden Tag aufs Neue heraus.

Wie lernt man den Umgang mit Menschen?

Ganz am Anfang einer Berufslaufbahn steht die Rekrutierung der Polizistinnen und Polizisten. Wir achten darauf, dass die zukünftigen Aspirantinnen und Aspiranten gesunden Menschenverstand und bereits einiges an Lebenserfahrung mitbringen. Eine Polizistin, ein Polizist muss mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und ohne Vorurteile auf alle Menschen zugehen können. In der Grundausbildung werden die Aspirantinnen und Aspiranten in den Grundlagen der Psychologie geschult.

Die Kommunikation steht im Zentrum

Vor allem die Kommunikation ist ein wichtiges Thema. Zusammen mit einem Taktikausbilder werden im Fach EIKO (Eigenschutz durch Kommunikation) verschiedene Fälle praktisch durchgespielt. Dabei wird zum Beispiel geübt, wie ich als Polizist damit umgehen kann, wenn ein Fahrzeugführer bei einer Kontrolle dauernd am Handy ist.

Im Fach CP (Community Policing) wiederum wird die Bürgernähe thematisiert. Mit der bürgernahen Polizeiarbeit sollen Probleme, die beispielsweise im Zusammenhang mit einem Jugendtreff anfallen, ganzheitlich zusammen mit den Betroffenen gelöst werden.

In der Taktik schliesslich werden die möglichen Gefahren bei einer Personenkontrolle aufgezeigt.

Das Gegenüber lesen lernen

Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Polizistin/der Polizist nie weiss, was das Gegenüber im Sinn hat. Die Polizistin, der Polizist muss auf alle möglichen Situationen reagieren können und sich im zwischenmenschlichen Kontakt trotzdem «normal» verhalten. Man muss einen Riecher entwickeln, um Gefahrensituationen frühzeitig zu erkennen.

Und genau das ist ein sehr zentraler Punkt: In den ersten Jahren nach der Grundausbildung sammeln die Polizistinnen und Polizisten Erfahrungen. Mit jeder Situation, die die Mitarbeitenden erlebt haben, füllt sich der Erfahrungsrucksack. Dieser ermöglicht es ihnen mehr und mehr, für jede Situation die richtige Umgangsform zu finden. Wichtig ist dabei, das Erlebte zu reflektieren und Schlüsselerkenntnisse festzuhalten. Das aufmunternde Schulterklopfen, das beim Bauern zur Lösung des Problems geführt hat, wäre bei der pelztragenden Bentley-Fahrerin sicherlich nicht so gut angekommen.

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